Zeitlupe – Das journalistische Essay

Angela Merkel und Paul Celan in Budapest

Die Welt ist schneller geworden, Nachrichten rasen um den Globus, Moden kommen und gehen, Ideen vergehen bevor sie richtig leuchten, Kunst bestimmt den Alltag und Alltag entwirft Kunst. Dienstags hält WDR 3 Mosaik die Zeit an und schaut auf die vorbei rasenden Phänomene. Heute mit einem Beitrag von Wilhelm Droste aus Budapest.

Paul Celan

Gegenwärtig geschieht ein kleines Wunder in Budapest. Die Stadt feiert mit zahlreichen Veranstaltungen und einer Ausstellung den Dichter Paul Celan, der eigentlich keinen nennenswerten Bezug zu Ungarn hatte. Im Goethe-Institut gab es eine internationale Runde, gesprochen wurde über den Dichter und die graphischen Arbeiten seiner Frau Gisele, die zu bestimmten Texten ihres Mannes gezeichnet hat. Kunst und Erinnerung, darüber sollten zwei Frauen und drei Männer klug debattieren. Das gelang nicht. Am Tisch wurden fünf Celane heraufbeschworen, doch weit und breit zeigte sich kein Celan. Gisele geriet in eine abseitige Nebenrolle. Die Veranstaltung war ein hochinteressantes Lehrstück ohne Lehre. Dafür aber brannten die Fragen um Celan umso leuchtender.

Eine junge Frau, Virág Mária Márkus, hat das gerade in seiner unbescheidenen Bescheidenheit wunderbare Fest erfunden, organisiert und durchgeführt. Im bürgerlichen Beruf ist sie für estnische Kultur in Budapest zuständig, in der Freizeit aber begeistert sie sich und andere für Celan und schafft Wunder: allein vier Kulturinstitute, die in der Regel eitel und dünnhäutig sind, für ein Projekt zu begeistern, das setzt schon gewisse Schamaninnenkräfte voraus. Hier zeigt sich auf anmutigste Weise: wahre Kultur kommt in aller Regel von unten.

Doch auch die mächtige Merkel tat etwas für Kultur, sie natürlich von oben. Sie diskutierte in ihrer zehnminütigen Rede an der deutschsprachigen Andrássy-Universität mehr und mutiger mit sich selbst, als es im Anschluss die 120 landesweit zusammengetrommelten Studenten in vierzig Minten mit ihr taten. Die Fragen waren mit Ausnahme der letzten zwei, wo dann zum ersten Mal der Name Orbán fiel, zu lieb, zu brav, zu andächtig. Die harmlos daherkommende Rede dagegen war subversiv und geschickt mit reichlich Sprengstoff unterfüttert. Frau Merkel gratulierte den Ungarn, dass sie dank ihres großen Dichters Petőfi 1848/49 so eine starke demokratische Revolution erlebt haben, wie freier Schriftstellergeist beteiligt war an der erfolgreichen und friedlichen Systemwende 1989. Sie zitierte sogar György Konrád, den schärfsten Kritiker Orbáns, mit der gleichen jubelnden Begeisterung, mit der sie Kopfballtore von Per Mertesacker bejubelt. Besonders stolz war sie darauf, einen Ehrendoktortitel von der Universität Szeged zu bekommen, an der auch der große ungarische Lyriker der Moderne studiert hat: Attila József. Das Haar in dieser Szegediner Fischsuppe erwähnte sie nicht. Er wurde aus politischen Gründen von der Uni geschmissen, die dann für lange Zeit seinen Namen trug: angewandte Selbstkritik, ach gäbe es nur mehr davon. Inzwischen trägt sie ihn nicht mehr, und das ist ausnahmsweise keine Untat der Orbán-Regierung, das geschah schon vorher. Doch da gab es auch ein deutsches Haar in einer deutschen Suppe. Merkel bedankte sich höflich für die Auszeichnung aus Szeged, sprach das Sz aber falsch aus. Die Stadt an der Theiß hat ein scharfes S im Auftakt, Merkel aber entschied sich für das weiche Sch, und so sagte sie dann immer wieder Seged: dein Popo, dein Hintern, dein Arsch. Den Fehler hat ihr dann hinterher wahrscheinlich kein Ungar zu beichten gewagt.

So arbeiteten Virág Mária Márkus und Angela Merkel Hand in Hand für ein netteres Ungarn.

Viktor Orbán spürt das nicht, auch wenn er sich da seit einigen Wochen nicht mehr so sicher sein sollte. Mit seinem nicht nur Frau Merkel irritierenden und eher vor sich hin genuschelten Satz auf der gemeinsamen, frostigen Pressekonferenz: „Eine Demokratie muss nicht unbedingt liberal sein!” gräbt er sich das eigene Grab. Denn mit gleichem Unfug hätte er auch nuscheln können: „Demokratie muss nicht unbedingt demokratisch sein”

Die sich ankündigenden Erschütterungen der Orbán-Ordnung werden auch aus dem Geiste Celans genährt. Keiner wusste besser als er: Wer sich nach einer neuen Sprache sehnt, der muss sie vorsichtig und genau, kühn und bescheiden zugleich suchen, sonst plappert er nur.

Wilhelm Droste
2015. 02. 10.